Jede Stimme zählt

Wer in 20 Jahren die Region Solothurn prägen wird, ist heute noch kaum sichtbar. Timnit Mengsteab zeigt, wie man ankommt: mit Eigeninitiative, Ausdauer und der Bereitschaft, neue Wege zu gehen.

Vielfalt ist eine Blumenwiese. Ein Meer aus grossen, kleinen, hohen und niedrigen Blüten, Gräsern und Blättern. Während es oben blüht, wächst unten das Neue nach. Erst aus der Distanz ist sie erkennbar als Gesamtkunstwerk. Jede Blume zählt. Oder übersetzt für die Region Solothurn als Wohn- und Arbeitsplatz: Jede Stimme zählt. Dies war das Jahresmotto 2024/25 der Standortförderung espaceSOLOTHURN.

Wer will schon wissen, welche Menschen mit welchen Ideen in 20 Jahren die Akzente in der Region Solothurn setzen? Sie sind erst im Begriff, sich zu entfalten und sich einen Platz an der Sonne zu suchen. Sicher ist nur: Es werden Frauen und Männer sein, die eigene Initiativen entwickeln und die sich nicht vom ersten Hindernis abschrecken lassen. Vielleicht gehört Timnit Mengsteab zu ihnen, von deren Existenz vor zehn Jahren am Jurasüdfuss niemand wusste. So wenig wie sie wusste, was der Jurasüdfuss ist. Inzwischen ist sie als persönliche Assistentin von Angela Zellweger, Inhaberin der Ubicon GmbH und Mandatsträgerin der Geschäftsleitung der Standortförderung espaceSolothurn – buchstäblich inmitten der Region angekommen. «Ihre Geschichte steht stellvertretend für alle, die bereit sind, lange Wege zu gehen und ein Ziel beharrlich zu verfolgen», sagt sie.

Timnit Mengsteab mit ihrem Sohn Rafael.

Flucht als einzige Perspektive

Diese Geschichte beginnt im Herbst 2014 in der 7000 Kilometer entfernten eritreischen Kleinstadt Mai Aini. In Solothurn nimmt das Leben zu dieser Zeit den gewohnten Lauf. Die Heso ist vorbei. Auf dem Weissenstein nimmt die neue Gondelbahn Form an und wird in wenigen Wochen eröffnet. In Biberist ist das Areal der geschlossenen Papierfabrik an eine Basler Immobilienfirma verkauft worden, und auch in Zuchwil und im Attisholz werden Pläne für eine Umnutzung der grossen Industriebrachen umgesetzt.
Zur selben Zeit spielt sich in Dekemhare ein Drama ab. Un- ter den rund 32 000 Menschen lebt die 17-jährige Timnit Mengsteab, deren Mutter ein gut gehendes Restaurant betreibt. Jetzt setzt die örtliche Behörde der Mutter ein Ultimatum. Wenn sich die Tochter nicht für den Militärdienst rekrutieren lässt, werden sie ihr Restaurant schliessen. Militärdienst bedeutet für junge Menschen in Eritrea, dass sie auf unbestimmte Zeit eingezogen werden und zu einem Niedrigstlohn für den Staat arbeiten müssen. Teils bei der Armee, teils in der Landwirtschaft. Die zahllosen Zwangsverpflichteten, die ohne Auskommen und Per- spektive zu Alkoholikern geworden sind und in den Städten herumhängen, wirken auf junge Leute wie eine zusätzliche Warnung. Timnit Mengsteab entschliesst sich zur Flucht. Sie verlässt ihre Mutter und macht sich zu Fuss auf den über 100 Kilometer langen Weg zur äthiopischen Grenze. Sie kann sich nur nachts durch die trockenen Wälder bewe- gen. Tagsüber versteckt sie sich, weil im Grenzgebiet immer wieder Kämpfe aufflammen.

Höllenritt durch die Sahara

Eine 18-Jährige braucht viel Mut und Glück, um eine Flucht durch die ärmsten Gegenden der Welt zu überleben. Timnit Mengsteab schliesst sich wechselnden Gruppen an, um mit ihnen ein Stück voranzukommen. Wird irgendwo geschossen, ist jeder auf sich allein gestellt. Manche bleiben für immer zurück, andere tauchen wieder auf. Sie ist verletzt und am Ende ihrer Kräfte, als sie Menschen trifft, die ihr zu verste- hen geben, dass sie sich auf äthiopischem Boden befindet. Sie landet in einem Flüchtlingscamp, was aber erst bedeu- tet, dass sie dem eritreischen Militärdienst entronnen ist. In Äthiopien ist sie nur bei den Schleppern willkommen, die 1200 Dollar für eine Flucht durch den Sudan und Libyen verlangen. Mit dem Geld, das ihr die Mutter mitgegeben hat, tritt sie die Reise durch die Sahara gemeinsam mit 40 anderen Flüchtlingen auf der Ladefläche eines Pick-ups an. Es ist ein Höllentrip, den die Hälfte der Passagiere nicht überlebt. Fernab von den Kameras der TV-Sender sterben in der südli- chen Sahara Jahr für Jahr mehr Flüchtlinge als im Mittelmeer.

Manchmal muss man sich die Gleichzeitigkeit von Ereignissen vor Augen führen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sehr sich die Realität an unterschiedlichen Orten des Globus unterscheidet. Im Sommer 2015 wird in Zuchwil unter Einsatz von Hubschraubern eine der grössten Solaranlagen der Schweiz installiert. Anfang Juli sorgt eine spektakuläre Ansiedlung für Schlagzeilen bis in die USA: «In Luterbach near Zurich» werde die amerikanische Firma Biogen ein neues Werk für eine Milliarde Franken errichten. In der Region Solothurn beginnen in den Ruinen des Industriezeit- alters neue Konzepte und Unternehmungen zu blühen.
Timnit Mengsteab verbringt den selben Sommer 2015 in Libyen. Im Frühling ist sie verletzt an der Mittelmeerküste angekommen. Der Pick-up, der sie durch die Sahara fuhr, hatte gegen das Ende der Reise einen Unfall. Es ist der Sommer der grossen Flüchtlingswelle nach Europa. Die lybischen Behörden verhaften die junge Eritreerin mehr- mals und werfen sie in ein Gefängnis. Einmal liegt sie in der Zelle drei Tage lang neben einer Leiche. Kaum ist sie wieder draussen, versucht sie über Landsleute Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen, damit sie ihr Geld für die Überfahrt nach Europa schicken kann. Schliesslich schickt die Mutter Geld, ohne je selbst mit der Tochter gesprochen zu haben. Die Hoffnung, dass sie noch lebt, ist grösser als die Angst, betrogen zu werden. Beim ersten Versuch wird das Boot der Schlepper von der libyschen Küstenwache entdeckt und zurückgetrieben. Im zweiten Anlauf klappt es. Vor der sizilianischen Küste werden die Bootsflüchtlinge von der italienischen Küstenwache aufgegriffen und an Land gebracht. Es ist August 2015. Timnit Mengsteab ist ausgelaugt und wie in Trance. Andere Flüchtlinge aus Eritrea erbarmen sich der verlorenen jungen Frau und nehmen sie mit in Richtung Norden. Schon nach wenigen Tagen und einer kurzen Zugfahrt ist sie in Chiasso. Sie versteht weder die Sprache noch die Schriftzeichen der Menschen, die hier leben.

Timnits Reise und zeitgleiche Ereignisse im Espace Solothurn

Herbst 2014
Timnit flieht aus Eritrea, nachdem sie vom Militärdienst bedroht wird, und schlägt sich zur äthiopischen Grenze durch.
Auf dem Weissenstein entsteht die neue Gondelbahn, das Biberister Papierareal wird verkauft, erste Ideen für Attisholz werden konkret.

Frühling/Sommer 2015
Sie überlebt eine gefährliche Flucht durch die Sahara, wird in Libyen verhaftet, schafft aber die Überfahrt nach Italien.
In Zuchwil wird eine der grössten Solaranlagen der Schweiz installiert, Biogen kündigt das Milliardenprojekt in Luterbach an.

Herbst 2015
Nach einer 6937 Kilometer langen Reise voller Entbehrungen und Gefahren kommt Timnit in der Schweiz an: Nach dem Flüchtlingszentrum wird sie mit anderen Frauen nach Luterbach versetzt.

Herbst 2016/2017
Dank Unterstützung durch Marianne Flury lernt sie Deutsch, erhält Asylstatus und startet eine Integrationsmassnahme bei Regiomech.

2016–2020
Industriebrachen wandeln sich zu Innovations- und Wohnquartieren, neue Firmen siedeln sich an, nachhaltige Konzepte entstehen.

Herbst 2018–2021
Sie beginnt eine Lehre als Detailhandelsassistentin, wechselt wegen Diskriminierung den Betrieb und schliesst erfolgreich ab.

ab 2017 …
Timnit zieht nach Gerlafingen, gründet eine Familie und arbeitet heute als Assistentin der Geschäftsführung bei espaceSOLOTHURN.

«Mama Marianne» bietet Hand

Im Herbst kommt Timnit Mengsteab an den Jurasüdfuss. Zuerst in das Durchgangszentrum Fridau in Egerkingen, dann weisen ihr die Behörden gemeinsam mit fünf anderen jun- gen Eritreerinnen eine Wohnung in Luterbach zu. Sie warten auf die Fortsetzung ihres Asylverfahrens und erhalten je 280 Franken pro Monat für die Deckung ihres Lebensunterhalts. Sie verstehen kein Deutsch und haben keinen Zugang zum Internet. In dieser Situation werden sie vom Sozialamt auf ein Brückenangebot aufmerksam gemacht: In Solothurn bieten pensionierte Lehrerinnen und Lehrer kostenlose Sprachkurse für Flüchtlinge an. Eine von ihnen ist Marianne Flury. Die ehemalige Lehrerin hatte früher gemeinsam mit ihrem Mann Georges eine Tierarztpraxis in Kriegstetten geführt und befindet sich im Ruhestand. Jetzt unterrichtet sie Geflüchtete und merkt rasch, dass sie diesen Menschen erst einmal die hiesigen Bräuche erklären muss, bevor sie mit ihnen Grammatik büffelt. Marianne Flury ist eine Praktikerin. Die Hilfe zur Selbsthilfe ist dabei ihr Antrieb. Sie hat weder Lohn noch Auftrag. Sie tut es, weil es nötig ist. Gegenseitiger Respekt und Begegnung auf Augenhöhe sind ihr dabei wichtiger als Dankbarkeit. Beide Seiten können auf vielen Ebenen voneinander profitieren.

Marianne Flury, Timnit Mengsteab und ihr Sohn Rafael.

Schritt für Schritt in ein neues Leben

Marianne Flury besucht die eritreische Wohngemeinschaft und sorgt zunächst einmal für eine Grundausstattung des Haushaltes. Die intelligente und tatkräftige Timnit hat sich von den Strapazen der Flucht erholt und setzt sich das Ziel, möglichst rasch Deutsch zu lernen. Sie kann an einer Sprachschule die beiden Basiskurse bis zum Niveau A2 absolvieren. Marianne Flury, die bei den Frauen in Luterbach bereits den Ehrentitel «Mama Marianne» trägt, unterstützt bei den Hausaufgaben und im Umgang mit den Behörden. 2017 erhält Timnit Mengsteab eine Aufenthaltsbewilligung und kann sich für einen Integrationskurs bei der Regiomech in Zuchwil anmelden. Dort wird ihr auch bei der Bewerbung für eine Arbeitsstelle geholfen. Schliesslich kann sie eine zweijährige Lehre als Detailhandelsassistentin in einem Tankstellenshop beginnen. Beim Bewerbungsgespräch sagt sie, sie könne Radfahren. Das ist geschwindelt. Vor dem Stellenantritt musste sie eilig lernen, sich auf zwei Rädern fortzubewegen.

«Wenn du es dir zutraust, geh allein»

Die junge Eritreerin hat es nicht leicht in der Berufsausbildung. Sie ist eher billige Arbeitskraft als Auszubildende. Die meisten Kunden im Geschäft sind freundlich, aber einige werden ausfällig gegen die dunkelhäutige Frau. Als sie schliesslich von einer Mitarbeiterin des Diebstahls bezichtigt wird, fasst sie sich ein Herz und spricht beim Lehr- lingsamt vor. «Ich habe dem Mann dort gesagt, es töne für ihn vielleicht unglaubwürdig, aber ich würde ihm trotzdem erzählen, was ich erlebe. Und er hat mir geglaubt.» Das ist in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsselerlebnis für sie. Die Behörden in ihrer Heimat hat sie nur als Bedrohung erlebt. Jetzt wird sie von einem Repräsentanten des Staates an- gehört und ernst genommen. Und sie hat es ohne Hilfe von «Mama Marianne» geschafft. «Ich habe ihr gesagt, wenn du es dir zutraust, dann geh allein», erinnert sich Marianne Flury. Das Lehrlingsamt vermittelt Timnit Mengsteab in eine Migrolino-Filiale nach Grenchen, wo sie regelrecht aufblüht und ihre Lehre 2021 erfolgreich abschliesst.

Ein Leben mit neuer Perspektive

Inzwischen spricht Timnit Mengsteab sehr gut deutsch und kann sich eine eigene Wohnung in Gerlafingen leis- ten. Sie ist mit einem Mann aus ihrer Heimat verheiratet, der in Deutschland lebt, dort eine Lehre als Polymechaniker absolviert und bereits im Besitz des deutschen Passes ist. Vor einem Jahr ist ihr gemeinsamer Sohn Rafael zur Welt gekommen. Fenkil Habtom, der Vater, will bald in die Schweiz kommen, wo er in einer der nach Fachkräften suchenden Firmen am Jurasüdfuss mehr als willkommen sein dürfte. Timnit Mengsteab hat inzwischen einen neuen Job. Sie arbeitet als Assistentin von Angela Zellweger, Geschäftsführerin der Standortförderung espaceSOLOTHURN. Die beiden berufstätigen Mütter haben sich damit zu einer Selbsthilfeorganisation zusammengeschlossen: Angela Zellweger muss ihre Kinder nicht jeden Tag in eine Krippe bringen und Timnit Mengsteab kann den einjährigen Rafael zur Arbeit mitnehmen. Als Allrounderin unterstützt sie ihre Arbeitgeberin in administrativen und organisatorischen Aufgaben und ermöglicht es Angela Zellweger, sich ganz auf ihre unternehmerischen Tätigkeiten – insbesondere das Mandat als Geschäftsleiterin der Standortförderung espaceSOLOTHURN – zu konzentrieren.

Jede Stimme zählt: Marianne Flury, Timnit Mengsteab mit Rafael, Angela Zellweger mit Ava und in der Mitte Vince.

Starke Stimmen setzen die Akzente

Man sieht Timnit Mengsteab nicht an, was sie mit ihren 29 Jahren an Unvorstellbarem erlebt hat. Wenn sie mit dem Säugling im Arm dasteht und strahlt, ist sie einfach eine junge Mutter mit Plänen für die Zukunft. Ihre Geschichte ist besonders hart und drastisch, aber sie folgt einem Muster, das fast jeder Mensch durchstehen muss, der einen grossen Plan verfolgt. Misserfolge, Rückschläge und Enttäuschungen pflastern den Weg, bis es gelingt. Erst recht, wenn der Weg im Tal der Aussichtslosigkeit beginnt. Aber am Ende setzen Menschen, die den beschwerlichen Gang in Kauf nehmen, die Akzente. Jede Stimme zählt, wenn eine Vielfalt entstehen soll.

Ein Text von Michael Hug

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